Im Dezember 2023 nimmt der deutsche Verkehrsminister die Reisenden zu mehr „Bahnhöflichkeit“ in die Pflicht. Als Bahnkunde nehme ich hiermit im Gegenzug (Zug – haha!) die in Deutschland tätigen Bahngesellschaften zu mehr Bahnhöflichkeit in die Pflicht.
Die Höflichkeit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll, sagt das Internet. Ich bin sicher, dass das dauerhaft nur funktioniert, wenn sich beide an die sozialen Konventionen halten. Ich muss an dieser Stelle hoffentlich nicht extra betonen, dass die in dem Beitrag erwähnte körperliche oder verbale Gewalt gegenüber MitarbeiterInnen von Verkehrsunternehmen überhaupt nicht in Ordnung ist. Steht außer Frage. Es fängt ja wirklich schon im Kleinen an. „Auch mal guten Tag sagen“, wünscht sich eine zitierte Bahnmitarbeiterin.
Beinahe jeden Morgen: Im Pendlerzug zwischen Essen und Bochum hält mir der Kontrolleur schweigend sein Gerät entgegen.
Okay, geschenkt. Bin bin wahrscheinlich morgens auch kein Quell der Freude. Höflichkeit im Sinne von „Leistung, für die ich bezahlt habe wird auch geliefert“, reicht mir schon fast. In diesem Fall: Zug fährt zum angekündigten Zeitpunkt. Eine rücksichtsvolle Verhaltensweise gegenüber den Reisenden, quasi. Ein wenig Servicegedanke dazu ist trotzdem nett, dann läuft es doch auch besser.
Bochum Hbf, November 2023: Die Displays sind ausgefallen, „bitte beachten Sie den Aushangfahrplan“. „Ich suche Dir die beste Strecke raus und Du rastest aus“, steht auf einem Plakat an dem Glashäuschen der Auskunft auf dem Bahnsteig. Draußen verwirrte, genervte, wütende Menschen. Drinnen sitzt ein Service-Mitarbeiter der Bahn und versucht durch Passivität mit der Umgebung zu verschmelzen.
London, Juni 2023: Ich stehe höchstens eine Minute vor der Tube-Map, bevor ein Mitarbeiter auf mich zukommt und nachfragt, ob er helfen kann. Ich sage, dass ich nach Nottingham möchte. Er beschreibt den Weg nach St. Pancras Station und nennt mir Fernzugverbindungen aus dem Kopf. Ich werde rot und sage: „Oh sorry: Notting Hill, not Nottingham“. Er zeigt mir die richtige U-Bahn.
Stand Dezember 2023 ist jeder zweite Fernverkehrszug in Deutschland unpünktlich. Das liegt noch mal weit unterhalb der ohnehin schon unterirdischen angestrebten Pünktlichkeitsquote von 70 %. Im Regionalverkehr in NRW ist jeder fünfte Zug unpünktlich. Tendenz rapide abwärts. Ich pendele jeden Tag von Essen Hbf nach Bochum Hbf zur Arbeit. Meine persönliche Bilanz ist sehr viel schlechter. Dabei sind es nur zwei Haltestellen und 10 Minuten reine Fahrzeit auf einer Hauptstrecke, acht bis neun Zugpaare pro Stunde allein im Regionalverkehr. Sicherlich, es ist hier sehr voll und die Verbindungen sind eng getaktet. What could possibly go wrong?
Essen-Bochum: Kurz nach der Einführung von 9 € und 49 € Ticket sind die Fahrgastzahlen spürbar gestiegen. Viele kennen sich nicht aus, bleiben direkt an den Aufgängen stehen und steigen mittig in den Zug ein. Es herrscht Gedränge. Vorne und hinten hingegen ist bequem ein Sitzplatz zu bekommen. Genervte Durchsagen vom Lokführer, immer und immer wieder: „Die Türen freigeben, wir fahren sonst nicht los“. Bei jedem Halt ein bis zwei Minuten Verspätung mehr.
London, Juni 2023: Rush Hour auf der Elisabeth Line. Direkt auf dem Bahnsteig steht ein Mitarbeiter mit Mikrofon und macht Durchsagen: „Please use the full length of the platform, there will be plenty of space at the front and the back of the next train.“
In der Woche im Dezember 2023, in der ich diesen Absatz geschrieben habe, waren nur zwei meiner Züge pünktlich. Nach dem, was man außerhalb des Eisenbahnwesens unter „pünktlich“ versteht, war es nur einer. Es war die Woche, die überhaupt den Ausschlag für diesen reichlich angefrusteten Beitrag gegeben hat. Irgendwo muss es halt mal raus. Die Frau kann es nicht mehr hören und Bahn-Mitarbeitende anschreien darf ich ja nicht, sagt der Verkehrsminister.
Höflich und zurückhaltend habe ich wieder und wieder gewartet. Habe dabei wichtige berufliche Termine verpasst, mir eine Erkältung und Corona geholt (selbst schuld, jetzt öfter wieder Maske), private Verabredungen verschoben oder mir fast in die Hose gepisst weil das Klo kaputt war.
Bochum – Wanne-Eickel: Die Glück-Auf-Bahn RB46 wird ab April 2024 von einem neuen Anbieter betrieben. Die neuen Züge sind kürzer und haben keine Toilette mehr.
Mittlerweile bin ich ständig auf der Hut und habe jederzeit mindestens eine, oft sogar zwei Alternativverbindungen parat, wenn ich wirklich pünktlich irgendwo ankommen muss. Kurz nicht aufgepasst, zack, Schienenersatzverkehr und 40 Minuten mit dem blöden Bus im Stau auf der A40 verbracht. Statt acht Minuten Regionalbahn.
Es klemmt häufig nicht mal am Zugverkehr selbst, sondern an der unklaren Informationslage. Ich schaue zu Hause in die App, mein Zug ist pünktlich. Ich komme am Bahnhof an, mein Zug ist verspätet oder fällt aus. Moment, fällt aus? Der Rhein-Ruhr-Express kommt aus Aachen und in den zwei Stunden bis kurz vor Essen hält es niemand für nötig, den KundInnen mitzuteilen, dass der heute gar nicht losgefahren ist? Ich finde das extrem unhöflich.
September 2023, Schrödingers Zug: Er befindet sich gleichzeitig im Zustand „Pünktlich“ und „Fällt aus“. Erst durch direkte Beobachtung am Bahnsteig wird der Zug in einen der beiden Zustände springen. In dieser seltsamen Mischung sehen Bahnfahrende jedoch an sich nichts Unklares oder Widerspruchsvolles.
Dieses ständige Rumgehampel und Umdisponieren ist inzwischen zu einem echten Stressfaktor geworden. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dieses Jahr auf der Suche nach Alternativen verbracht habe. Ich bekomme einen Eindruck, wie es meinen KollegInnen mit Kindern gehen mag, wenn mal wieder die Kita ausfällt oder das Kind kotzt und kurzfristig abgeholt werden muss.
Fährt mein Zug oder fährt er nicht? Warte ich auf den RRX oder sprinte ich schnell zur S-Bahn, weil aus den momentan angekündigten fünf Minuten Verspätung am Ende sowieso 20 Minuten werden? Fernverbindung gleich stornieren und ein Auto mieten oder die angebotene Alternativverbindung mit 45 Minuten Aufenthalt in Oberhausen-Sterkrade riskieren? (Niemals, wenn da was schiefgeht, kommst du ewig nicht weg.)
Ich weigere mich, komplett auf das Auto umzusteigen. Zu teuer, zu klimaschädigend, weder ein Parkplatz zu Hause, noch am Büro verfügbar. Aber oft geht es nicht anders. Meine Carsharing– und Autovermietungskosten für dieses Jahr mag ich lieber nicht aufaddieren. Hier eine Liste von Bahnhöfen, von denen ich die Frau schon mit dem Auto abgeholt habe, weil der Halt Essen Hbf kurzfristig entfallen ist: Neuss, Wuppertal, Velbert.
Essen – München, November 2023, Mail von der Bahn am Abend vor der Abfahrt: Aufgrund von Verzögerungen bei Bauarbeiten entfällt der Halt in Essen Hbf „möglicherweise“. Gleis 1+2 sind gesperrt. Ich plane den Regionalexpress nach Duisburg zu nehmen und dort umzusteigen. Seltsamerweise soll dieser laut App von Gleis 2 fahren. Dort stehen ein Bagger und eine hilflose Service-Mitarbeiterin. Ich frage sie, wo der Zug jetzt abfährt, sie weiß es nicht.
Seit einigen Jahren nennt die Bahn ja zu jeder Verspätung immerhin eine Begründung, den sogenannten RIS-Kundengrund. Das ist sicherlich sinnvoll. Wer hätte denn kein Verständnis für einen Feuerwehreinsatz oder die medizinische Versorgung eines Fahrgastes? Auch Bauarbeiten müssen sein. Nur: Am Ende des Tages kannste dir da als Fahrgast ein Ei drauf braten. Die britische Zeitung The Guardian hat diese Durchsagen daher kürzlich zu einer kafkaesken Kunstform erklärt.
Bochum, November 2023: Die S-Bahn kommt viel zu spät, Grund dafür ist eine Streckensperrung aufgrund einer Signalstörung oder Weichenstörung oder so etwas ähnlich technisches. Bei Ankunft in einem der folgenden Haltepunkte höre ich die Computerstimme draußen sagen: „… Grund dafür ist die Verspätung eines vorausfahrenden Zuges.“
Immer wieder treffe ich auf BahnmitarbeiterInnen, die dieses Durcheinander aus „technischen Störungen“ (Tür kaputt, mehrere Zugteile fehlen -> Aussteigen verzögert sich, mehr Verspätung) und „kurzfristigem Personalausfall“ durch persönlichen Einsatz zu kompensieren zu versuchen. Die GdL gibt zumindest vor, das in ihren Arbeitskämpfen unterstützen zu wollen. Am 21.12.2023 sagte ein Gewerkschaftssprecher im Deutschlandfunk Nova sinngemäß, dass sie die Arbeitsbedingungen verbessern wollen, um die Bahn-Berufe insgesamt attraktiver zu machen. Ich bin sicher, dass würde zu Servicequalität und Höflichkeit beitragen. Was mich stresst, ist die Kurzfristigkeit der Streiks – siehe oben: ständiges ad-hoc Umdisponieren. Und nein, 48 Stunden sind nicht genug.
Oktober 2023: Beim fahrplanmäßigen Lokwechsel des IC „Westerland“ in Itzhoe kommt es zu einer „technischen Störung an der Lok“. Die wirklich engagierte und zuvorkommende Zugchefin versucht ihre Leitstelle zu informieren, dass der nachfolgende Zug warten und Fahrgäste übernehmen soll. Am Ende läuft sie dem Regionalexpress sogar winkend entgegen. Vergeblich, er fährt ihr vor der Nase weg. Bei der entschuldigenden Lautsprecherdurchsage ist ihr die Erregung deutlich anzuhören. Sechs Mal habe ich den IC „Westerland“ dieses Jahr zwischen Essen Hbf und Husum bzw. Dagebüll genutzt – kein einziges Mal bin ich planmäßig angekommen.
Juni 2023, Den Haag nach Essen: Die DB schreibt mir eine Stunde vor Abfahrt, dass mein Anschluss-ICE ausfällt. Aus einmal Umsteigen in Utrecht Centraal wird eine Regionalzug-Odyssee. In den Niederlanden klappt das Umsteigen jedesmal problemlos, selbst bei ein bis drei Minuten Umsteigezeit. Doch schon der erste deutsche Zug der Eurobahn ab Venlo hat erheblich Verspätung, mein Anschluss in Mönchengladbach ist weg. Ein älteres, asiatisch aussehendes, gut gekleidetes Ehepaar hat ein Ticket aber anscheinend nicht das richtige. Es gibt Sprachschwierigkeiten mit dem Zugbegleiter. Die beiden werden an der nächsten Haltestelle irgendwo am Niederrhein ausgesetzt.
Am 14. Dezember 2023 schickt mir ein Kollege einen Zeitungsartikel: Die Bahnstrecke Essen-Bochum-Dortmund wird im Januar und Februar für sieben Wochen gesperrt. Betroffen sind alle Linien, auch meine Alternativstrecke über Essen-Steele. Zumindest suggeriert der Onlinebeitrag in der ersten Fassung das so. Andererseits steht dort nur „Streckensperrung“, das Wort „komplett“ kommt nicht vor. Im DB Navigator steht bislang nur, dass es „zu Einschränkungen kommt“. Wenige Tage später kündigt die GdL wieder Streiks für Januar an. Mir doch egal, mein Zug fährt eh nicht. Wie ich nächstes Jahr auf die Arbeit komme? Wird schon irgendwie gehen. Wie immer.