Heute ist Post gekommen. Ein Brief von der Stadt Essen. Ich solle einen Streit schlichten, heißt es darin. Na ja, so ungefähr. Es geht um folgendes: Die Bezirksvertretung II hat beschlossen zwei Straßen im Stadtteil Rüttenscheid umzubenennen. Einige Anwohner möchten das nicht, haben eine Bürgerinitiative gegründet und fleißig Unterschriften gesammelt. Jetzt gibt es im Februar ein Bürgerbegehren bei dem die Einwohner des ganzen Bezirks, also auch ich, die endgültige Entscheidung fällen sollen.
Ich wohne im Rüttenscheider Mädchenviertel, genauer gesagt in der Annastraße. Wenn ich aus dem Haus gehe und mich nach links wende, überquere ich die Brigittastraße und lande schließlich in der Cäcilienstraße. Es gibt die Dorotheenstraße, die Emmastraße, Friederikenstraße und so weiter. Die haben das in der Gründerzeit tatsächlich konsequent durchgezogen. Jedenfalls bis zur Ursula-, Veronika- und Wandastraße. Die Xanthippe haben sie sich vielleicht nicht getraut, Yvonne mag damals nicht üblich gewesen sein und die Zilli hatten sie schon mit der Cäcilia verbraten, oder so.
Hin und wieder gibt es Ausnahmen von der ganzen Mädchenflut und um zwei davon wird gerade gestritten: die Von-Seeckt-Straße und die Von-Einem-Straße. Die hießen ursprünglich Irmgard- und Ortrudstraße und wurden 1937 von den Nationalsozialisten nach zwei, aus heutiger Sicht fragwürdigen, Reichswehr-Generälen benannt. Der eine war verantwortlich für die Vernichtung der Herero in Deutsch-Südwestafrika und hätte wohl am liebsten bei Sozialdemokraten und Homosexuellen weitergemacht. Der andere fand unter anderem die Existenz Polens unerträglich. Also hat die rot-rot-grüne Mehrheit in der Rüttenscheider Bezirksvertretung ziemlich genau 75 Jahre später kurzerhand beschlossen die Straßen wieder zurückzubenennen. Die Anwohner wurden scheinbar nicht gefragt sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Danach ist der Streit eskaliert, jetzt gibt es das Bürgerbegehren und einen Straßenkampf um jede Stimme.
Den Wahlunterlagen liegt ein eng bedrucktes vierseitiges Faltblatt bei, auf dem die Kontrahenten ihre Position darlegen. Ich versuche das hier mal sinngemäß und pointiert wiederzugeben. Grüne, SPD und Linke sagen: „Kann ja nicht sein, dass unsere Straßen nach Antidemokraten, Nazis und Völkermördern benannt sind und deshalb ändern wir das jetzt.“ Die Generäle-Bürgerinitiative hält dagegen: „Wir wissen was das für dunkle Gestalten waren, wollen die Namen aber trotzdem behalten. Wir müssen mit diesem schwierigen Teil der deutschen Geschichte umgehen können. Kostet ja auch eine Menge Geld, so eine Umbenennung. Außerdem hättet ihr uns vorher mal fragen können.“ Nebenbei bemerkt: Natürlich gibt es auch eine Mädchen-Bürgerinitiative, die das Gegenteil behauptet.
Die Oppositionsparteien der Bezirksvertretung, also im Wesentlichen CDU und FDP meinen: „Nazis, Menschenverächter – so ein Quatsch. Lupenreine Monarchisten waren das. Und hey, wer war das nicht, damals.“ Als Beleg für ihre These bemühen sie Theodor Heuss. Im Ernst. Steht so im Text. Auf der letzten Seite des Papiers appelliert der Bezirksbürgermeister an seine Mitbürger: „Die Umbenennung wurde durch ein demokratisch gewähltes und legitimiertes Gremium beschlossen. Das sollten wir nicht in Frage stellen.“ Ach so, die Piraten haben auch was gesagt, aber nur in der Presse, weil sie nicht im Stadtteilparlament vertreten sind. Es klang wie: „Habt ihr eigentlich nichts besseres zu tun?“
Ich will mich darüber aber gar nicht lustig machen. Ich stelle mir bloß die Frage: Was mache ich am 3. Februar mit meinem Stimmzettel? Umbenennen ja oder nein? Generäle oder lieber Mädchen? Trotz heftiger Meinungsmache klingen alle Positionen im Kern plausibel. Demokratie hin oder her, ich glaube, ich kann das nicht mitentscheiden. Es betrifft mich auch nahezu überhaupt nicht. Außerdem hat die Bezirksvertretung II, demokratisch legitimiert, wie der Bürgermeister richtig formuliert hat, ja bereits entschieden. Warum soll ich das in Frage stellen? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass wir hier womöglich gar nicht über Generäle oder Mädchen abstimmen. Es scheint mir eher um ein juristisches Problem zu gehen: Muss die Stadtverwaltung die Anwohner vor einer Straßenumbenennung anhören? Sachdienliche Hinweise bitte per Mail.
Nachtrag: Ich habe übrigens doch an der Abstimmung teilgenommen. Meine Stimme verfallen lassen, das bringe ich nicht übers Herz. Herrscht ja schließlich Demokratie und die klappt nur wenn Leute wählen gehen. Meine Entscheidung fiel zugunsten der Mädchen, und vor allem zugunsten der Position der Bezirksvertretung, aus. Die Mehrheit wollte lieber Generäle.