Freitag, 8. April 2016. Endlich ist es soweit: Es geht los. Ein Schlepper bringt uns zur Seeschleuse des Hafens Den Helder und von dort ins Fahrwasser. Segel werden gesetzt. Ich habe keine Ahnung was vor sich geht und stehe nur im Weg. Die Mannschaft wird in zwei Wachen eingeteilt und die gnadenlose Tretmühle beginnt: Nachts alle vier Stunden Wachwechsel, tagsüber alle sechs Stunden. Stehst Du einen Morgen um 8 Uhr auf, gehst Du am nächsten Morgen um 8 Uhr schlafen. Mich wird das fertigmachen.

Wir verlassen die niederländische Küste und drehen nach Westen. Das Wetter wird schlechter, das Thermometer sinkt nachts auf vier Grad und die Tage werden mühsam. Bei immer stärker werdendem Wind gibt es viel zu tun. Ich bin jetzt nicht Käpt’n Ahab in Person, aber auch kein unerfahrener Segler. Und trotzdem fühle ich mich wie ein kompletter Anfänger. Ich habe es überschlagen: Mindestens 120 verschiedene Taue zur Bedienung der Segel sind auf den Belegnägeln und Klampen an Deck angeschlagen. Alles unbeschriftet, vieles ist ganz anders als auf jedem anderen Schiff, auf dem ich gefahren bin. Das hier ist ein Rahsegler, das hat wenig mit einer Yacht oder einem der typischen Traditionssegler der „Braunen Flotte“ auf dem IJsselmeer gemein. Einige der englischen Kommandos, vor allem welche, die mit starkem französischem Akzent vom 2nd Mate kommen, verstehe ich nicht. Pull se shit!?  💩 – ahh nee, „Pull the Sheets“. Holt die Schoten dicht! Jetzt, in dem schwerem Wetter, bei starkem Seegang, Regen und vor allem in der Nacht frustriert mich meine Hilflosigkeit. Den anderen Neulingen scheint es ähnlich zu gehen.

Wir kreuzen gegen den Starkwind quer über die Nordsee. Mehr als Windstärke 6 ist es nicht, aber kommt mir viel mehr vor. An den Tauen müssen wir zu zweit oder zu dritt arbeiten, sonst ist der Druck des Windes zu groß. Bei den kurzen und harten Wellen auf der Nordsee kommt alles in Bewegung, das Essen schwappt aus der Schüssel und aus Tischkultur wird endgültig Nahrungsaufnahme ohne Rücksicht auf Verluste. Mit vollem Magen in der Galley, wo wir dicht gedrängt am Tisch sitzen, ohne Blickkontakt nach außen, kämpfe ich kurz gegen die Übelkeit. Andere sind einen Schritt weiter und kotzen den Eintopf gleich zu den Fischen. Selbst schlafen wird anstrengend weil sich der Körper permanent gegen den Seegang stemmt. Mit einem zusätzlichen Brett schützen wir uns gegen das Herausfallen aus der Koje bis wir nach wenigen Stunden wieder geweckt werden. Es ist saumäßig kalt. Alles ist klamm. Ich schäle mich aus dem Schlafsack, ziehe ein T-Shirt und zwei dicke Wollpullover über die Thermounterwäsche. Dann hinein in das Ölzeug und wieder an Deck, wo die andere Wache dankenswerterweise Kaffee und Tee vorbereitet hat.

Tage und Nächte verschwimmen (Angeber! – waren nur etwas mehr als zwei Tage) bis die englische Küste in Sicht kommt. Ich fühle mich fremd, das Schiff hat seine Eigenheiten, vieles ist schwergängig, rostig, schmutzig, primitiv und es fällt mir schwer, mich darauf einzustellen. Dafür komme ich mit den vielen Leuten auf so engem Raum erstaunlich gut klar – eine meiner größten Sorgen wird während der ganzen Reise kein Problem darstellen. Schließlich beruhigt sich das Wetter. Flaute, das ist Zeit zum Ausruhen, Kräfte sammeln, und sich fragen, warum zur Hölle man sich das antut.

Flutsch!

Kennt ihr den Film „Das Boot“? Okay, es ist ein Kriegsfilm und die Tres Hombres, obwohl 1943 als deutsches Kriegsschiff gebaut, ist nun wirklich nicht auf Feindfahrt. Trotzdem erinnere ich mich an eine Filmszene, als wir uns der Straße von Dover nähern. In dem Streifen versucht der Kommandant mit einem Trick, sein U-Boot unbemerkt durch die feindlich kontrollierte Meerenge von Gibraltar zu manövrieren. Er möchte bei Dunkelheit so nahe wie möglich heran und dann das Boot von einer Unterwasserströmung geräuschlos durch die Meerenge ziehen lassen. Wird nicht klappen.

Unbemerkt bleiben wollen wir nicht. Aber wir müssen den vielen Schiffen und vor allem den schnellen Fähren in der engen Passage zwischen Dover und Calais ausweichen. Ein Segelschiff ohne Antriebsmaschine ist hier, in einem der verkehrsreichsten Seegebiete der Welt, im Prinzip unerwünscht. Die Müdigkeit ist verflogen, die Nacht ist klar, der Wind hat wieder aufgefrischt und weht aus einer perfekten Richtung, die Gezeitenströmung zieht uns mit. We keep a sharp lookout und halten den dichten Schiffsverkehr stets im Auge. Anders als im Film flutschen wir problemlos durch und machen ordentlich Meilen. Schnell noch die kurze Zeit mit verfügbarem Handyempfang nutzen und dann zufrieden in die warme Koje verschwinden. Gute Nacht, Herr Kaleu.

Die Isle of Wight verschwindet nicht

Flaute. Dicht vor der Isle of Wight geht es nicht weiter. Das Wetter ist sonnig, wir liegen an Deck und nichts passiert. Kartoffeln schälen, Deck schrubben. Letzteres übrigens nicht als Schikane oder aufgrund eines Sauberkeitsfimmels, sondern um die hölzernen Decksplanken vor dem Austrocknen zu schützen. Unser einziger Antrieb sind die Gezeiten: Ist der Strom günstig, lichten wir den Anker und lassen uns mitziehen. Kippt die Tide, schmeißen wir das Ding wieder über Bord. Wieder einmal eine schweißtreibende Angelegenheit. Die Kette ist schwer, die Ankerwinde primitiv und natürlich ist alles Handarbeit.

Noch einmal ein Ritt auf den Wellen und eine grandiose Ankunft

250 Seemeilen sind es noch bis Douarnenez. Die Hälfte der Strecke. Der Wind frischt wieder auf, wir machen wieder Fahrt. Diesmal geht es besser. Die körperlichen Anstrengungen habe ich im Griff. Kalt ist mir auch nicht mehr. Nur die Müdigkeit macht mir immer wieder zu schaffen. Wir nähern uns dem Atlantik. Die Wellen werden länger und höher, der Wind kräftiger. In meiner Koje ist es wie in einer Achterbahn. Unter Deck rumpelt und stampft es, das Schiff hat erhebliche Schlagseite. Ich wache auf, verunsichert und stolpere an Deck. Anscheinend sehe ich verängstigt aus. In meiner Vorstellung kämpfen wir uns durch einen Sturm und stehen kurz vor dem Kentern. Aber alle Segel sind gehisst, das Schiff macht gute Fahrt und gleitet über die Wellenberge. Der Käpt’n schaut mich an, grinst und ruft begeistert: „That’s what she’s made for!“

Wir passieren die Ile d’Ouessant und gelangen schließlich in die Bucht vor Douarnenez. Mitten in der Nacht bergen wir die Segel, lassen den Anker fallen. Einfach in den Hafen fahren ist ja wieder nicht möglich, ohne Maschine. Wir stoßen an mit gesegeltem Rum und Tres-Hombres Schokolade. Am nächsten Morgen setzen wir mit dem Beiboot über.

Yon’s my Privateer – see how trim she lies 

„Vous êtes les pirates?“ werden wir im Fischereihafen von Einheimischen gefragt – Ja, so etwas in der Art sind wir wohl. Zumindest optisch. „Pirate style“ hat der Skipper beim Einpacken der Segel befohlen. Er mag es nicht so militärisch streng. Außerdem sei das schonender für das Segeltuch. Auch unser Äußeres scheint für sich zu sprechen. Auf dem Weg zu den Duschen werden Sam, Trainee aus Manchester, und ich erneut angesprochen und direkt gefragt, ob wir von der Tres Hombres seien. Wir stehen ungewaschen, bärtig mit unseren Seestiefeln vor einem Pavillon von Trans Oceanic Wind Transport am Museumshafen Tréboul, in dem ausschließlich per Segelschiff transportierte Waren verkauft werden. Wir werden hereingebeten, probieren etwas Wein, trinken mehr Wein, teilen uns eine Portion Fritten, unterhalten uns prächtig … und lassen die Dusche Dusche sein. Später klettern wir über Felsen, sitzen auf einer Bank über den Klippen und schauen über die Bucht. Weit draußen, viel weiter als es von Bord aus wirkte, liegt das Schiff. In diesem Moment ist es MEIN Schiff.

Immer noch kein Dusche

Dann ist es Zeit zum Abschied nehmen. Das Beiboot bringt mich und einen zweiten Trainee ein letztes Mal an Land. Gemeinsam steigen wir in den Bus nach Quimper. Dort trennen sich unsere Wege. Nach all der Sorge um den Zeitplan bin ich nun zu früh dran. Mein Hotelzimmer kann ich erst in einigen Stunden beziehen. Ich streife durch die Stadt, lasse mich treiben, genieße die Sonne und esse bretonische Crêpes. Die Dusche kann warten – ist jetzt auch egal.

Zwei Wochen später…

Die Nordlys, der zweite Frachtsegler von Fairtransport, ist nach einer Kollision repariert und wieder im Wasser, meldet Facebook. Ich klicke mich durch die Routenplanung: Bornholm, Kopenhagen, Halmstad/Schweden. Klingt toll. Ich habe mich auf der Tres Hombres weit aus meiner Komfortzone heraus bewegt, wie man heute so schön sagt. Nicht so weit wie andere, die quer über den Atlantik mitfahren und das teilweise sogar hauptberuflich, aber immerhin. Ich weiß, dass diese Reise in einigen Situationen über der Grenze meiner Belastbarkeit hinausgegangen ist, und ich war froh, wieder zu Hause zu sein. Jetzt, wo ich das hier schreibe, fehlt mir das Meer. Ich habe die Schnauze voll und will gleichzeitig doch wieder los. Scheiß Seemannsromantik.

Arte hat eine Dokumentation auf der Tres Hombres gedreht, die ganz gut zu meinen Eindrücken passt. Leider ist „Klar zur Wende: Rückenwind für Frachtsegler“ schon depupliziert, wird aber immer mal wieder von jemandem auf YouTube hochgeladen. Suchen lohnt sich!

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